Der folgende Text basiert auf einem Vortrag von Melanie Dellenbach.
CW: Körperkategorisierungen basierend auf den BMI und Dickenfeindlichkeit.
Ein Grund, weshalb Dickenfeindlichkeit normalisiert und gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und unhinterfragt ist, ist die Frage nach der Schuld.
Ich lade euch ein, zuerst einen Schritt zurück zu machen und zu überlegen: Selbst wenn Dicksein zu 100% selbst verschuldet wäre, dürften wir Menschen deswegen beschämen und diskriminieren?
Die Frage der Schuld ist hochproblematisch. Daher ist es auch nicht mein Ziel, diese zu beantworten, sondern zum Nachdenken anzuregen.
Leider existiert zum Thema Gewicht ein gesellschaftliches Narrativ voller Falschwissen, auch unter Fachpersonen. Nur wenigen ist bekannt, dass wir inzwischen über 100 Faktoren kennen, die einen Einfluss auf das Körpergewicht haben. Dies sind zum Beispiel Armut, Umwelteinflüsse, Genetik und viele mehr. Die meisten davon kann ein Individuum nicht beeinflussen. Trotzdem wird der Mythos verbreitet, dass mit mehr Bewegung und etwas weniger essen ein schlanker Körper erreichbar ist.
Studien zeigen, dass ein hohes Gewicht in Deutschland überwiegend als selbstverschuldet betrachtet wird (Mata & Hertwig, 2018)1. Fast jeder dritte Deutsche ist darüber hinaus der Meinung, dass dicke Menschen ihre Behandlung selbst bezahlen sollten (ebd.). Diese Idee von “Selber Schuld” wurde speziell durch den “War on Obesity” (Krieg gegen dicke Menschen) massiv gefördert und mit millionenschweren, oft hochstigmatisierenden Kampagnen der “Gesundheitsförderung” verbreitet.
In der Schweiz hiess es auf Plakaten: “Es braucht wenig, um viel zu ändern”. Erst auf der Webseite der Kampagne oder in Interviews als Reaktion auf öffentliche Kritik wurde sichtbar, dass damit nur die Leute gemeint waren, welche “noch nicht” oder nur “wenig dick” sind. Den Verantwortlichen war also bewusst, dass “es braucht wenig, um viel zu ändern” für dicke Menschen nicht gilt.
Mit stigmatisierenden Bildern von überdimensionalen Dreirädern, Schlitten und anderem wurden dicke Menschen zur Abschreckung missbraucht (dabei wurden die dicken Menschen nicht gezeigt, sondern mit einem Objekt symbolisiert).
Die Kampagnen fanden in der Schweiz zwischen 2007 und 2011 statt. Es gab ganze Sendungen wie “SF bi de Lüt: Ein Ort nimmt ab” im Schweizer Fernsehen. Dort wurde der dicksten Teilnehmerin eines Dorfes durch eine Ernährungsberaterin ein Schwein in den Kühlschrank gelegt, welches bei jedem Öffnen des Kühlschranks grunzte (die Sendung wurde von der Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt).
Angesichts solcher Kampagnen und Aktionen erstaunt es nicht, dass zwischen 2004 bis 2010 die Voreingenommenheit (implizite stigmatisierende Einstellungen) gegenüber dicken Menschen um 40 Prozent zugenommen hat (Charlesworth & Banaji, 2019)2. In den USA wurden dazu insgesamt 4,4 Millionen Tests über einen langen Zeitraum ausgewertet3. Die Daten basieren auf dem “The Implicit Association Test” (IAT).
Während bei den Kategorien Sexualität, Race, Hautfarbe, Alter und Behinderung die Voreingenommenheit in diesem Zeitraum abnahm, nahm sie in Bezug auf das Körpergewicht zu. Gleichzeitig gab es eine fast ebenso grosse Veränderung in die entgegengesetzte Richtung bei den Einstellungen zur Sexualität (edb.), was super ist!
Diese Untersuchungen stammen aus den USA. Bei anderen Studien wie der oben genannten aus Deutschland wurde in Ländervergleichen festgestellt, dass die Zahlen in Deutschland und USA vergleichbar sind. In der Schweiz gibt es bisher keine Zahlen zu diesem Thema.
Dickenfeindlichkeit gab es schon immer, und sie ist stark verknüpft mit Anti-Schwarzem Rassismus, Klassismus, Antsemitismus u.v.m. (Ressourcen sind unten vermerkt). Wie die Zahlen oben zeigen, haben in den letzten zwei Jahrzehnten Vorurteile und Schuldzuschreibungen gegenüber dicken Menschen massiv zugenommen. Damit einhergehend werden zwangsläufig auch Gewichtsdiskriminierung, negatives Körperbild und Essstörungen immer häufiger.
Statt die Frage nach der Schuld zu stellen, müssen wir uns fragen:
Wie können wir Körper-Respekt und das aktive Vermeiden von Gewichtsstigmatisierung in allen Bereichen des Lebens erreichen?
Wie fördern und erreichen wir eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung und ein Schulsystem, das Körper-Respekt lebt und Hänseleien und Mobbing anhand des Gewichts nicht toleriert?
Es gibt viel zu tun, lass es uns anpacken!
Online-Selbsttests
- Antifat-Attitudes-Test: Wie sind Ihre Vorurteile?
- Implicit-Association-Test zu Themen wie Sexualität, Religion, Hautfarbe oder Gewicht (englisch)
Historische Ressourcen
- Youtube Video “Was It Ever Okay to be Fat? with Dina Amlund“
- Youtube Video “Fearing the Black Body: The Racial Origins of Fat Phobia with Dr. Sabrina Strings“
- Buch Englisch: “Fat – A Cultural History Of The Stuff Of Life” von Christopher E. Forth
Quellen
- 1.Mata J, Hertwig R. Public Beliefs About Obesity Relative to Other Major Health Risks: Representative Cross-Sectional Surveys in the USA, the UK, and Germany. Annals of Behavioral Medicine. Published online January 25, 2018:273-286. doi:10.1093/abm/kax003
- 2.Charlesworth TES, Banaji MR. Patterns of Implicit and Explicit Attitudes: I. Long-Term Change and Stability From 2007 to 2016. Psychol Sci. Published online January 3, 2019:174-192. doi:10.1177/0956797618813087
- 3.Goldberg C. Study: Bias Drops Dramatically For Sexual Orientation And Race — But Not Weight. WBUR News. Published January 11, 2019. Accessed November 7, 2021. https://www.wbur.org/news/2019/01/11/implicit-bias-gay-black-weight