Warum ich keine Fitnessuhr mehr benutze

CW: Bewegungszwang, Diätkultur/Esstörung

Fitnessuhren und Smartwatches sind voll im Trend. Sie zeigen dir Nachrichten an, können telefonieren, Sprachnachrichten verschicken, die Einkaufsliste ergänzen, vermutlich auch bald deinen Abwasch machen – und deine Schritte und Bewegungsmuster aufzeichnen.

Die Uhr ermahnt dich, dass du dich heute „noch nicht genug“ bewegt hast oder dass dir noch „Schritte fehlen“. Gleichzeitig lobt sie dich und zeigt dir funkelnde Glitzerregen an, wenn du „dein Ziel erreicht“ hast. Wenn du es „geschafft“ hast. Sie gibt dir das Gefühl, heute etwas erreicht zu haben.

Ich (Sandra) war süchtig nach diesem Gefühl. Meine Fitnessuhr war jahrelang fest um mein Handgelenk geschnallt. Sie hatte mich wortwörtlich „im Griff“. Die Gedanken in diesem Post sind meine, und es kann sein, dass du ganz andere Erfahrungen machst. Mir ist es aber wichtig, diese Gedanken zu teilen.

Wenn du die „Vorteile“ einer Fitnessuhr erfahren möchtest, musst du nur in deinem Freundeskreis herumfragen: «Die Uhr motiviert mich, mich mehr zu bewegen.» «Ach, ich nehme das nicht so ernst, ich lasse mich davon nicht stressen – aber es ist interessant zu sehen, wie viel ich an einem Tag gegangen bin.» «Die Uhr erinnert mich daran, nicht zu lange am Stück zu sitzen, das ist ja ungesund.»

Was scheinbar harmlos und nach guten Absichten klingt, hat auch andere Seiten: „Ich bin vor Mitternacht noch im Wohnzimmer auf- und abgerannt, um auf meine Schritte zu kommen.» «Die Wanderung gestern war schön – aber ich habe mich so geärgert, meine Uhr nicht angehabt zu haben! Das wären so viele Schritte gewesen!» Ebenso ein auffälliges, drängendes «ach lass uns doch noch eine Runde um den Block gehen» von Freund*Innen, die sonst eigentlich gerne gemütlich auf dem Sofa sitzen.

Diese Beispiele sind harmlos im Vergleich dazu, wie sehr die Uhr mich im Griff hatte und wie sehr ich mein Leben danach ausgerichtet hatte, möglichst viele Schritte zu sammeln. Und natürlich trifft das nicht auf alle Menschen zu.

Aber eines tut die Fitnessuhr für alle von uns: sie setzt uns ein Ziel, und damit die Möglichkeit, zu „versagen“ – und zwar täglich. Mit diesem Ziel verbunden ist die Botschaft, dass mehr Bewegung besser ist. Dass WIR besser sind, wenn wir uns bewegen. Und das ist hochproblematisch und ableistisch. 

Die Uhr weiss nicht, ob ein ganzer Tag (oder eine Woche) auf dem Sofa oder im Bett genau DAS wäre, was uns gerade gut tut. Die Uhr weiss nicht, ob wir an chronischen Schmerzen, Kopfweh oder unter Depressionen leiden. Ob wir gerade Zeit mit Freund*innen, Familie, mit unseren Hobbies verbringen und uns das richtig gut tut. Die Uhr mahnt unerbittlich: beweg dich mehr. 

Dass diese Bewegung in der Regel nicht freudvoll ist, zeigen obige Beispiele. Die ständige Ermahnung, ein weiteres „ToDo“ auf unserer Liste, die erzwungene Bewegung in Momenten, in denen wir eigentlich keine Lust darauf haben… das löst Stress aus. Und ich glaube, ich spreche für uns alle wenn ich sage, dass niemand von uns noch mehr Stress braucht. 

Ich habe meine Fitnessuhr im November 2020 in den Müll geschmissen. Das nackte Gefühl am Handgelenk wich bald einer unfassbaren Freiheit. Ich durfte wieder auf MEINEN Körper und seine innere „Uhr“ hören. Und du darfst das auch. Auch das ist Körper-Respekt: seine Bedürfnisse ernst zu nehmen, auch die nach Ruhe. Unsere innere Uhr weiss ganz genau, was sie braucht. Ich spüre, wann ich an die frische Luft gehen, wann ich einen Spaziergang machen, und wann ich kuschlig-gemütlich zu Hause bleiben möchte. Und du und dein Körper wissen das auch. Wenn du ein Zeichen gebraucht hast, deine Fitnessuhr zu entsorgen oder die Trackingfunktion zu deaktivieren: hier ist es. 

Beitrag von Sandra Hafner

Weitere Ressourcen:

https://www.eatingdisordertherapyla.com/cutting-down-on-food-and-fitness-tracking/

Fitness Gear as a Holiday Gift? Don’t Do It

https://health.usnews.com/health-news/blogs/eat-run/articles/fitness-gear-as-a-holiday-gift

P.S. Wusstest du, woher das Ziel der 10’000 Schritte kommt? Es war eine Marketingmassnahme einer japanischen Firma, die in den 60-er Jahren den ersten Schrittezähler entwarf. Jemand aus der Marketingabteilung fand, dass 10’000 gut klingt und hübsch aussieht auf dem Display. Ich glaube, das können wir einfach mal unkommentiert so stehen lassen.